Begegnungen

Weiss - Kapitel 5 - Teil I

Die Stille ist der Unruhe Herr.

Still und leer, nicht von des Gedankens Blässe angekränkelt, sondern unbeschwert und frei wollte ich immer sein. Stille ist Voraussetzung dafür, dass meine eigene innere Melodie erklingen kann. Viele Religionen der Welt haben ihren Ursprung in der Tatsache dass Jemand sich zurückgezogen hat und somit zur Erkenntnis gelangte. Manche gingen in die Wüste oder stiegen auf Berge, manche stiegen in Höhlen hinab, einer setzte sich unter einen Baum und blieb dort. Weder will ich mich mit den alten Meistern auf eine Stufe stellen, noch will ich behaupten, zur Erleuchtung gelangt zu sein. Ich will nur sagen: Stille ist für mich Quell der Inspiration und Kraft. Stille hat eine reinigende Wirkung und schafft Klarheit. Als jüngster Sohn einer geräuschvollen Arbeiterfamilie war ich von Anfang an auf mich allein gestellt. Das Alleinsein war mein natürlicher Zustand, und ich habe das eher genossen als darunter gelitten. Im Griechischen bedeutet "Idiot" nichts Anderes als dass einer - mehr oder weniger aus eigenem Antrieb - abgesondert lebt von der Gemeinschaft. Er ist auf sich allein gestellt. Er handelt eigenmächtig und selbstverantwortlich. Der mir eigene "mikroskopische Blick", der es mir möglich macht, aus kleinen Zusammenhängen einen übergeordneten Kontext zu erkennen, entwickelte sich in meiner Kindheit. Da wurden Pfützen zu Meeren, Wiesen wurden zu Wäldern. Ameisenstaaten wurden zu Armeen, die ich mit Zuckerspuren zusammenführte auf dass sie gegeneinander kämpften. Aufgewachsen am Rande des Spessarts führten mich meine Streifzüge oft allein in die Tiefe des Waldes wo ich Pflanzen und Tiere aus nächster Nähe beobachten konnte. Im Alter von elf Jahren kam ich zum Judo. Vor und nach jeder Übungsstunde saß die Gruppe mehrere Minuten lang in regloser Stille, nur den eigenen Atem beobachtend. Wie selbstverständlich war ich angekommen in einer Gruppe Gleichgesinnter. Mit meinen Eltern - meine beiden Brüder waren inzwischen berufstätig - kam ich in den Raum Nürnberg. Nun galt es, sich neu zurechtzufinden. Wo war die Stille? Ein adäquates Dojo fand ich lange nicht. Nach dem Abitur gründete ich mit einigen sehr verhaltensauffälligen Freunden die Künstlergruppe Hirschenstrasse. Es wurde heftig gemalt. Große Bilder, figürlich mit

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