Begegnungen

Weiss - Kapitel 9 - Teil I

1983 sah ich rein zufällig im Züricher Kunsthaus Harald Szeemanns Ausstellung "Der Hang zum Gesamtkunstwerk". Damals stand ich noch am Anfang meiner künstlerischen Entwicklung. Unbewusst hatte ich gerade meine ersten Gehversuche in der Malerei hinter mir. Weder wusste ich vorher wer Szeemann war, noch hatte ich von den dort gezeigten künstlerischen Positionen allzu viel Ahnung. Bis zum heutigen Tag ist diese Ausstellung die Beste geblieben, die ich je gesehen habe. Harald Szeemann blieb mein Lieblingskurator über seinen Tod hinaus. Ich war völlig offen und ohne bestimmte Vorstellungen. Wahrscheinlich machte die Schau gerade deshalb einen so großen Eindruck auf mich. Es schien weniger darum zu gehen, dass die einzelnen Exponate den Anspruch des Gesamtkunstwerks einlösten als eher darum, dass sie in ihrer Skizzenhaftigkeit über sich selbst hinauswiesen und gegenseitig weniger vergleichend als ergänzend aufeinander Bezug nahmen. Inzwischen sind 25 Jahre vergangen und es ist für mich an der Zeit. Den Begriff neu zu überdenken.

Ursprünglich kommt der Hang zum Gesamtkunstwerk wohl aus dem Wunsch nach Erhabenheit und Endgültigkeit. Möglichst alles was denkbar und machbar ist, soll im Gesamtkunstwerk enthalten sein. Dem zu Folge müssen viele Menschen an der Verwirklichung teilhaben. Voraussetzung dafür ist der Glaube an die gemeinsame Sache. Eine Kathedrale ist unter diesem Gesichtspunkt vom Eingangsportal bis zum Schlussstein, vom Priestergewand bis zur Liturgie ein Gesamtkunstwerk, das aus dem Glauben an Gott geschaffen wurde. Auch ohne spezifischen Glauben versetzen uns Gesamtkunstwerke vergangener Kulturen in Staunen und Ehrfurcht. Das Gesamtkunstwerk zielte letztlich immer auf gesellschaftliche Relevanz - je nachdem welcher Grundidee es auch immer entsprang. Ob es die Tempelanlagen von Vat Angkor in Kambodscha, den Turmbau zu Babel, die Kunst der alten Ägypter, Mayas, Inkas, Azteken ging - immer waren totalitäre Machtgefüge sowohl treibende Kraft als auch Ergebnis des jeweiligen Gesamtkunstwerks.

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