Begegnungen

Neidel - Kapitel 6 - Teil I

"Die Kunst ist eine Art Gegenwahrheit" - glaubt der (selbsternannte) "Malerfürst" Markus Lüpertz zu wissen. Hjalmar Leander Weiss hält dagegen: "Es gibt nur eine Wahrheit. Diese steht in ihrer Gesamtheit außerhalb unseres Wahrnehmungsvermögens. Kunst kann nur in glückseligen Augenblicken der Offenheit einen Einblick davon geben." Disputwürdige Positionen - gewiss. Eine Generalisierung ist dabei wenig hilfreich.

Auf beiden Feldern agieren vorderhand individuelle Wahrheiten - oder vielleicht eben Gegenwahrheiten. Das Kollektiv schiebt das Einzigartige ins Diffuse, ins wirtschaftlich Passgenaue. Der Solist ist Einzelunternehmer, hat die Chance, Originalität, Klarheit zu definieren und die künstlerischen Ergebnisse (als Zeichnung, Bild oder Skulptur) an Betrachter weiterzugeben: edle oder bestürzende Angebote zum Dialog; er darf auch strittig ausgefochten werden.

Unser Alltag ist geprägt von Ein-Bildungen: Glück, Macht, Zukunft, Schönheit und Wissen. Mit unseren Vorstellungen schaffen wir uns scheinbaren Halt. Was geschieht aber, wenn Bilder etwas produzieren, das wir nicht verstehen? Wenn also die Imagination (als Einbildungs- und Vorstellungskraft) auf dem virtuellen Feld des Imaginären wildert und etwas entstehen lässt, das weder ist noch war? Im häufig abwertenden Gebrauch wird der produktive Aspekt des Imaginären, sein schöpferisches und provokatives Potenzial verkannt. Was nicht im Bild erscheint, gilt es einzubilden, und als Eingebildetes kann es auf das Gebildete einwirken, es subvertieren oder kritisieren.

Als Tat gesellschaftlicher Einbildungen ist das Imaginäre der Horizont, vor dem sich die Gesellschaft immer wieder neu entwirft. Das Imaginäre ist provokativ, indem es Irritation hervorruft, Brüche produziert und unbekannte Szenarien vor Augen führt. Es schafft andere Bilder, die berühren. Kunst kann zeigen, wie wir in diesen Momenten empfinden oder erfahren - und weniger verstehen.

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